Wir machten uns morgens um halb sechs auf den Weg.
Noch müde, aber erwartungsvoll taumelten wir in der ägyptischen Morgendämmerung vom Hotel-Bungalow zur Tauchbasis, um dort unsere Ausrüstung für diesen Tauchtag zu packen. Seit 7 Tagen wohnten wir nun im Hotel Menaville in Safaga, und seit 6 Tagen war es uns eine vertraute Gewohnheit geworden, morgens in der Tauchbasis MenaDive von Christa und Laurenz die Kisten mit dem Equipment aus dem Lager und die Tauchanzüge aus dem Trockenraum zu holen und zur Abholung am Wasserbecken bereitzustellen. Dort wurde die gesamte Ausrüstung auf einen Pickup geladen und an den Steg zum Tauchboot gefahren, wo sie nur noch auf das Schiff geladen werden musste.
So auch heute: eine halbe Stunde später war unsere Ausrüstung auf dem Tauchboot „Victoria“ verstaut, die Liste der Taucher, die diesmal mit rausfahren wollten, war von unserem Tauchguide Inger gecheckt worden, und die Victoria legte ab.
Dieser Tauchtag würde mit einem Early Morning Dive (oder wie unser Freund Michel so schön sagt: einem Early Merely) beginnen - einem Tauchgang in aller Frühe und zwar hinab zum Wrack der Salem Express. Mein erster Wrack-Tauchgang!
Die Salem Express hat eine recht traurige Geschichte zu verzeichnen. Sie war als Fährschiff zwischen Ägypten und Saudi Arabien unterwegs und beförderte vorwiegend Pilger nach Mekka und wieder zurück nach Ägypten.
Das Unglück, das zum Untergang des Schiffes führte, geschah wohl gegen Mitternacht, in der Nacht zum 16. Dezember 1991. Die Salem Express war auf dem Rückweg von Saudi Arabien zu ihrem Heimathafen Safaga, an Bord nach offiziellen Angaben 600 bis 700 Personen, nach inoffziellen Informationen jedoch sollen es mindestens doppelt so viele Passagiere, wenn nicht noch mehr gewesen sein. Gesteuert wurde das Schiff von dem sehr erfahrenen Kapitän Hassan Moro im Auftrag der Reederei Samatour. Es heisst, anders als andere Kapitäne wählte er nicht die sicherere Route weit weg vom Festland, nördlich des Panorma Riffs und dann südwestlich nach Port Safaga, sondern die um einiges kürzere Route, nämlich den Tiefwasserkanal zwischen Hyndman Riff und Festland. In dieser Nacht jedoch herrschten die schlechtesten Wetterbedingungen, die Salem Express kam von ihrem Kurs ab - auch Navigationsfehler werden dem Kapitän zur Last gelegt - und lief auf ein Riff auf. Welches Riff es genau gewesen war, das lässt sich heute nicht mehr genau sagen, vermutlich das Hyndman Riff. Durch den Aufprall auf dem Riff wurde ein Loch in die Steuerbordseite des Bugs gerissen, doch wirklich verhängnisvoll erwies sich, dass sich dabei die Bugklappe öffnete. Binnen kurzen muss sich das Autodeck mit einer gewaltigen Menge Wasser gefüllt und zum sofortigen Untergang des Schiffes geführt haben. Keine Zeit, um die Rettungsboote zu wassern ... weit mehr als 500 Menschen verloren ihr Leben.
Ich gebe zu, als ich nach dem ersten „Guten-Morgen-Tee“ an Bord mich daran machte, meine Ausrüstung zusammenzubauen, gingen mir einige dieser Gedanken durch den Kopf. Ob es meinen Freunden auch so ging „ ich glaube schon, denn die Vorbereitungen zu diesem Tauchgang waren von besonders hektischer Aufgeregtheit geprägt. Nach rund anderthalb Stunden Fahrt stoppten wir - direkt über dem Wrack.
Inger führte unser Briefing durch, die Buddy-Teams wurden eingeteilt, es ging los!
Wir gingen zu dritt.
Schon beim Abtauchen sahen wir das Wrack ganz deutlich. Kein Wunder, denn die höchste Stelle liegt bei etwa 10 m im Wasser, was damit auch für weniger erfahrene Taucher diesen Wracktauchgang ermöglicht. Die tiefste Stelle über dem Heckbereich beträgt fast 30 m. Auch wenn sich immer wieder Angaben von bis zu 32 m in der Literatur zu diesem Wrack finden: dazu muss man schon fast den Computer in den Sand graben. Denn Sandboden ist es, auf dem die Salem Express liegt - sie liegt auf der Steuerbordseite, die Bugklappe weit geöffnet. Inger hat uns erzählt, dass Tauchgänge zur Salem Express fast immer nur morgens stattfinden, denn da ist die See noch relativ ruhig. Aber morgens liegt das Licht auf dem Schiffsrumpf, während das Deck im Schatten liegt. Wir gingen auf fast 29 m tief, um dann langsam vom Heck zum Bug zu schwimmen, während wir die Deckaufbauten, den Mast mit dem Krähennest, die Ankerwinden betrachteten. Wir gestatteten uns Blicke durch die Fenster in die völlig leeren Innenräume hinein. Bis zum Bug kamen wir auf etwa 15 m Höhe und schwammen dann ruhig an der Backbordseite wieder zurück zum Heck. Kaum 11 Jahre liegt das Schiff dort auf Grund und schon bildet es Lebensraum für Korallenstöcke, die sich auf dem Rumpf angesiedelt haben und Verstecke für manch kleinere Fische vor Barrakudas und Muränen bieten. Als wir die zweite Umrundung des Wracks begannen, fielen mir viel mehr die Details ins Auge: die Rettungsboote, die ungenutzt im Sand versunken sind, die Plastikstühle, die wohl einstmals auf dem Sonnendeck standen, die weit geöffneten Koffer, auf dem Meeresgrund verstreut - sogar ein Radio liegt neben dem Wrack. Doch was mich wirklich berührt hat, war der Anblick eines ehemals weissen Turnschuhs im Sand. Und in diesem Moment stellte ich mir vor, welcher junge Mann mit welchen Hoffnungen und welchen Wünschen diesen Schuh getragen hat, als die Fluten über das Schiff und ihn hereinbrachen.
Ich gebe zu, erst jetzt kam mir die Bedeutung dieses Schiffes wirklich zu Bewusstsein. Es ist ein Grab für viele, viele unglückliche Menschen, deren Überreste zweifellos auch heute noch im Inneren des Schiffes zu finden sind. Doch gottlob ist die Salem Express im Inneren tabu - das Schiff gilt als Grab und Tauchgänge in das Innere sind aus Respekt vor den Toten untersagt.
Wer die Salem Express betaucht, wird ein Wrack finden, das schon aufgrund seines noch geringen Alters anders als viele andere Wracks seine tragische Geschichte sehr eindrucksvoll zu vermitteln weiss. Die Natur hat sich des Schiffes noch nicht allzusehr bemächtigt. Keine aufregenden Korallengewächse und keine allzu bunte und vielfältige Fischwelt erwartet den Taucher hier. Doch ein Wrack, dessen einzigartige Stimmung den Taucher erst dann vielleicht wieder loslässt, wenn er zurück an die Wasseroberfläche kommt.
Nach 38 Minuten tauchten wir wieder auf. Es war mein erster Wrack-Tauchgang ... und ich bin sicher, dass ich ihn nie mehr vergessen werde